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(FonoForum 4/1987)
Rarität aus Ost-Berlin*
DER COUNTERTENOR JOCHEN KOWALSKI von Martin Elste
Geradezu märchenhaft mutet die Karriere von Jochen Kowalski an - vom Requisiteur zum gefragten Countertenor - eine Karriere, die sich darüber hinaus erstaunlicherweise in der DDR abspielt just dort, wo jahrzehntelang das Prinzip des realistischen Musiktheaters die barocken Stimmen in moderne umwandelte.

Der junge Sänger (Jahrgang 1954) zählt seit seinem sensationellen Erfolg mit der Titelpartie aus Händels "Giustino" 1984 an der Komischen Oper zu den international begehrten Vertretern seines Fachs. Ein Countertenor vom europäischen Kontinent ist selten, einer aus der DDR noch seltener. Bislang ist diese Stimmgattung fast ausschließlich von Engländern gepflegt worden. "Bis vor ungefähr sechs Jahren wußte ich gar nicht, daß es so etwas gibt", gestand mir Kowalski, als ich mich mit ihm zwischen einer Hamburger Vorstellung und seiner Rückkehr nach Ost-Berlin zu einem Gespräch traf.

ENTDECKUNG EINES STIMMFACHS
Den ersten Kontakt mit seinem Stimmfach hatte er über die Schallplatte. Ihm fiel die Einspielung von Purcells "Cäcilien-Ode" unter Charles Makkerras in die Hände, und er hörte auf ihr zum ersten Mal Paul Esswood. "Mein Gott, das wäre doch was für dich!", dachte er, der sich seit Jahren mit dem Studium des lyrischen Tenorfachs abmühte. "Aber ich konnte mit niemand darüber sprechen, weil das ja bei uns völliges Neuland war und die Leute zuerst darüber nur gelacht haben." So studierte er weiterhin an der Hanns-Eisler-Hochschule Tenor und strebte nach einer Heldentenor-Karriere. Die Oper war von klein auf sein Traum gewesen.

"Ich komme aus einem Dorf in der Mark Brandenburg und bin als Jugendlicher immer heimlich mit dem Motorrad in die Staatsoper Unter den Linden gefahren. Einmal sah ich "Lohengrin" und der hat mich so fasziniert, daß hat mir gesangt habe, das mußt du auch irgendwie schaffen." Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Kowalski sprach an der Staatsoper vor - und wurde in der Requisite beschäftigt. Fünf Jahre lang lernte er den Opernbetrieb von Grund auf kennen. "Ich hab' die tollsten Vorstellungen damals gesehen. Das war eigentlich meine Lehrzeit. Ich hatte ja das große Glück bei den Proben immer dabei zu sein."

Nebenbei studierte er an der Volksmusikschule Gesang und bestand nach mehreren Anläufen auch die Aufnahmeprüfung zur Musikhochschule. Sechs lange Jahre mühte er sich dort in einem Fach ab, das nicht das seine war. "Auch nach dem Stimmbruch habe ich Partien im Knabenalt singen können - aber dem habe ich nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil ich dachte das kann man sowieso nicht gebrauchen." Von dem Plattenerlebnis mit Paul Eswood ermutigt, sang er der Gesangspädagogin Marianne Fischer-Kupfer vor - diesmal aber Altarien in der originalen Stimmlage. "Sie schrie auf rannte zu ihrem Mann und sagte: Harry, du mußt mal kommen: Hier ist was ganz tolles!"

"Durch viele Zufälle kam damals aus heiterem Himmel ein Brief vom Landestheater Halle mit einer Einladung zum Vorsingen als Countertenor. Resultat: Kowalski wurde sofort für die Händel-Festspiele 1982 engagiert und sang den von Händel komponierten dritten Akt des Opernpasticcios "Il Muzio Scevola". "Das war eine Sensation. Die Leute haben vor Begeisterung getobt! Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Das war etwas ganz Neues für Halle." Fast wie eine Entschuldigung fügt er hinzu: "Und mir hat es so viel Spaß gemacht!"

Diese Aufführung sollte nicht ohne Folgen bleiben. Der Intendant der Komischen Oper war anwesend und engagierte Kowalski praktisch vom Fleck weg. Kowalskis erste Bühnenrolle war der Feodor im "Boris Godunow". Die zweite Inszenierung, der "Giustino", gab ihm die Möglichkeit, seinen ganzen männlichen, jugendlichen Charme auszuspielen, wovon sich nicht nur die Berliner, sondern auch die Münchner, Amsterdamer und Wiener überzeugen konnten. Er, der zum festen Ensemble der Komischen Oper gehört und sich dort künstlerisch zu Hause fühlt, hat Gastverträge mit der Hamburgischen Staatsoper (Daniel in Händels "Belsazar", Annio in Mozarts "La clemenza di Tito"), der Amsterdamer Oper (Feodor im "Boris Godunow") und der Wiener Volksoper ("Giustino" in einer Übernahme der Berliner Inszenierung).

Wie unterscheiden sich westliche von östlichen Bühnen? "Bei der Komischen Oper wird drei Monate an einer Inszenierung gearbeitet. Das ist für den Sänger ideal. Man kann dort ohne Hektik, ohne Druck arbeiten. Auf westlichen Bühnen hat der Künstler fertig einstudiert zur Probe zu erscheinen. Hier muß man selbständiger sein. Da ist keiner da, der einem das Händchen hält. "In diesem Sommer geht's nach Paris, wo er unter Jean-Claude Malgoire den Ptolomäus in Händels "Giulio Cesare" an der Grand Opéra singen wird. Für die Partie des Cesare, die er noch lieber singen würde, habe er noch Zeit. "Ich muß mir auch noch Partien für später lassen, wenn ich über 40 bin." Vielleicht wird diese Inszenierung auch für die Schallplatte aufgenommen.
SCHALLPLATTEN-AUFNAHMEN IN OST UND WEST

Apropos Schallplatte: Die modern Medienwelt geht an einem Sänger wie Kowalski nicht vorbei. Verschiedene Fernsehaufzeichnungen sowohl im Westen als auch im Osten hat er bereits hinter sich. Die exponierte Bloßstellung der Stimme auf der Platte, ohne das visuelle Erscheinungsbild: ist ihm eine Herausforderung die autoritative Kritik fordert. Aber diese vermißt er häufig. "Man müßte so einen Mann wie Walter Legge im Hintergrund haben. Der mit der Peitsche hinter einem steht. Das wünsch' ich mir." Gerade jetzt ist sein erstes Recital erschienen, eine Platte mit Barockarien preußischer Meister, zusammengestellt anläßlich des 750sten Geburtstages von Berlin, eine Koproduktion mit dem Capriccio-Label.

Die zweite Soloplatte ist halb fertig: eine Seite Mozart, die andere Händel. Weitere Projekte mit dem VEB Deutsche Schallplatten sind geplant, u.a. die Gesamtaufnahme von Glucks "Orfeo ed Euridice" and von Händels Oratorium "L'allegro, il pensieroso ed il moderato", wie auch eine Platte mit Solokantaten Händels. Abgeschlossen ist eine Produktion von Monteverdis "L'Orfeo" unter John Eliot Gardiner, diesmal für die Archiv Produktion der Deutschen Grammophon.

Hierbei hat er die Speranza gesungen. Inmitten seiner englischen Kollegen fühlte er sich allerdings etwas deplaziert. Kowalski gesteht, mit der emotionalen Zurücknahme des Vibratos, wie sie die englische historisierende Gesangsschule pflegt, nicht viel anfangen zu können. Barockmusik ist für ihn erotische Musik, bei der stimmlicher Sex-Appeal ebenso wichtig ist wie eine bühnenwirksame Ausstrahlung. Wenn seine Stimmfach-Kollegen singen, fühlt er diesen Aspekt häufig vernachlässigt. "Das ist mir manchmal alles zu sehr ohne Unterleib gesungen, auch bei den Damen." Aber wie gestaltet er das Männliche mit seiner Stimme, die doch ein sehr weibliches Timbre hat? "Indem ich die Stimme bis in die Zehenspitzen herunterziehe. Ob's mir immer gelingt, weiß ich nicht." Wohl-dosiertes Vibrato ist ihm eine Grundvoraussetzung für erotischen Gesang. Er fand dabei Unterstützung bei seiner Lehrmeisterin Marianne Fischer-Kupfer, die ihn auch heute noch betreut. Sie meinte zu ihm. "Wir machen das anders als die Engländer".

VORURTEILE GEGEN COUNTERTENÖRE

Elisabeth Schwarzkopf, mit der er im letzten Sommer zusammen gearbeitet hat, bemerkte gleich zu Beginn, daß sie Countertenöre nicht möge. Als er ihr dennoch vorgesungen hatte, konstatierte sie, er sei der seltene Fall eines männlichen Altos. Sie schieden im besten künstlerischen Einvernehmen voneinander. "Ich schätze nichts so sehr wie die frühen Mozart-Aufnahmen mit Frau Schwarzkopf. Das ist für mich perfekt", meint der Plattensammler Kowalski, der ein begeisterter Freund von Schellackplatten ist. "Mein Idealfall von Stimme wäre eine Mischung aus Sutherland, Callas, Wunderlich und Schwarzkopf. So möchte ich singen können, von jedem etwas. Diese Ausdrucksintensität der Callas, mit der perfekten Technik der Sutherland und der Schwarzkopf und mit der Schönheit von Wunderlich."

Freilich ist er immer wieder auf Unkenntnis und Ignoranz bei Musikern wie Zuhörern gestoßen, die oft denken, Kastrat und Countertenor seien zwei Ausdrücke für dieselbe Sache. "Ich sage mir immer, wer solche Musik singen darf, der muß darüber von morgens bis abends dankbar sein. Und das bin ich, und da stört es mich nicht, was hinter meinem Rücken geredet wird." Ob er sich nicht eingeengt fühle wegen des stilistisch doch recht begrenzten Repertoires? "Ich finde mein Repertoire gar nicht so klein. Ich weite es derzeit langsam Richtung Rossini aus Tancredis Cavatine 'Di tanti palpiti' habe ich jetzt zum ersten Mal bei meinem Hamburger Liederabend ausprobiert."

Leider hat der Chef, wie er liebevoll und voller Respekt zugleich Harry Kupfer betitelt, kein Interesse an Rossini. Auch bei Bellini und Donizetti sucht er Passendes für seine Stimme. Aus Amsterdam kam unlängst ein Angebot, den Oberon in Brittens "A Midsummer Night's Dream" zu singen, jene für Alfred Deller komponierte Partie. Im Oktober singt der gutaussehende, schlanke Kowalski den Orlofsky in einer neuen Inszenierung der "Fledermaus" an der Wiener Volksoper - wohl die erste rollendeckende Besetzung in der Geschichte dieser Operette! Ende Dezember folgt dann Glucks "Orpheus" an der Komischen Oper. Solange es Hosenrollen sind, und sich die Partien in seinen stimmlichen Grenzen bewegen, ist er allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. "Mich würde auch der Niklaus in "Hoffmanns Erzählungen" reizen, oder der Puck in Webers "Oberon"... Ich bin zu jeder Schandtat bereit!" Auch die zeitgenössische Musik steht auf seinen Programmen. Unlängst hat er in Hamburg einen Liederzyklus der DDR-Komponistin Ruth Zechlin uraufgeführt. "Moderne Musik fordert einen doch und macht Spaß. Ich muß mich dieser Musik stellen, das ist doch klar."

Ein gewiß nicht alltägliches Statement eines Countertenors, aber mit Sicherheit typisch für Jochen Kowalski. Man muß kein Prophet sein, um dem symphatischen Sänger eine wohltuend aus dem Rahmen fallende Karriere vorauszusagen.