Stimmbezeichnung «Sopranist»

Jörg Waschinski

Xerxes. Von Händel. Eine Traumrolle. Vor 250 Jahren sangen sie die Kastraten. Nachdem die Kastraten ausgestorben waren, sangen sie die Frauen. Aber jetzt sind die Männer auf dem besten Weg, diese Sopranpartien für ihr Geschlecht zurückzuerobern. Wir werden uns an die Stimmbezeichnung «Sopranist» ebenso gewöhnen, wie wir uns vor zwanzig Jahren an die Countertenöre und Altisten gewöhnt haben.
Einer von ihnen ist der junge Berliner Jörg Waschinski. Letzten Frühling sang er den Xerxes am Stadttheater St. Gallen. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit, mit virtuos-perlender Beweglichkeit bei schlackenloser Reinheit, mit reicher Stimmfarbenpalette und vielfältigem emotionalem Ausdruck.

Was ist das überhaupt, ein Sopranist? Was unterscheidet ihn vom Countertenor, oder vom Altus? Waschinski lacht nur: «Eine Frage, über die sich schon Jochen Kowalski den Mund fusselig geredet hat. Grundsätzlich, würde ich sagen, ist ‹Countertenor› eher eine Registerbezeichnung, ein Oberbegriff. Und weil jetzt immer mehr Countertenöre auftauchen, hat es sich als sinnvoll erwiesen, wie in anderen Stimmgattungen auch, innerhalb des Registers weiter zu differenzieren. ‹Altus› und ‹Sopranist› würden dann einfach eine Höhenlage bezeichnen. Aber es gibt in diesem Bereich keine einheitliche Terminologie. Mancher Altus versteht diese Bezeichnung auch als Abgrenzung zum Countertenor und will damit ausdrücken, dass er ganz körperlos singt. Das entspräche in etwa dem Gegensatz lyrisch–dramatisch.»

Jörg WaschinskiJörg Waschinski gehört zur zweiten, wenn nicht schon zur dritten Generation der Countertenöre. Dennoch wird es noch bei weitem nicht überall als selbstverständlich angesehen, dass Männer die Altpartien in der Barockmusik singen, geschweige denn, dass sie die grossen Kastratenrollen in der Barockoper ohne körperliche Verstümmelung durchaus zu meistern vermögen. Wir wissen natürlich nicht, wie die Kastraten der Barockzeit geklungen haben, auch der «Farinelli»-Film, wo die Stimme von Derek Lee Ragin am Computer mit derjenigen eines weiblichen Soprans gemischt wurde, kann bloss als interessanter Versuch einer klanglichen Annäherung gelten. Was wir aber heute einigermassen wissen, ist, wie diese Partien gesungen, verziert und phrasiert wurden. Und wir wissen auch, dass es einem Mann möglich ist, in diese sopranhellen Höhen vorzustossen. Eine solchermassen trainierte Stimme hat ein völlig anderes Timbre als ein weiblicher Sopran, ein betörend sinnliches, kombiniert mit viriler Kraft.


Jörg Waschinski als Xerxes in St. Gallen. (Bild: Ernst Schär)

Obwohl die Altisten mittlerweile ganz selbstverständlich zur Barockmusik gehören, muss Jörg Waschinski für seine Stimmlage Sopran selbst in der Musikwelt immer wieder das Eis brechen: «Ich habe 1994 die Aufnahmeprüfung an der Hanns-Eisler-Hochschule in Berlin gemacht. Ich habe die volle Punktzahl erreicht, sie hätten mich aufnehmen müssen, aber keiner der Lehrer war bereit, mich zu unterrichten. Da waren riesige Ängste vorhanden. Wenn Renate Faltin, die dann meine Lehrerin wurde, sich nicht doch noch bereit erklärt hätte, wäre ich nicht aufgenommen worden. Dabei ist der Umgang mit der Stimme beim männlichen Sopran rein gesangstechnisch genau derselbe wie bei jeder anderen Stimmlage.»
Vielleicht hätte er an einer auf Alte Musik spezialisierten Hochschule wie der Schola Cantorum in Basel offenere Türen vorgefunden? «Ich habe daran eigentlich gar nicht gedacht. Ich war bereits 28 Jahre alt und als Kirchenmusiker tätig. Auf die Idee, Sopran zu singen, hat mich ein Buch über das Kastratenwesen gebracht. Ich habe ganz allein damit begonnen, die hohen Stimmlagen auszuprobieren, und habe gemerkt, dass ich sehr hoch hinaufkomme und dass es auch ganz gut klingt.»

Jörg Waschinski hatte eine ganz normale Tenorstimme, interessanterweise mit einigen Schwierigkeiten in der Höhe: «Die Stimme ist mir schon damals oft umgebrochen, ich brachte den Registerwechsel nicht recht in den Griff. Es war für mich sehr anstrengend, den Ton zu halten, ohne dass er ins Falsett kippte.» Also gehört doch eine besondere körperliche Disposition dazu, als Mann in der Sopranlage zu singen? «Jeder Sänger kann Falsett singen, und bei einer gesunden Stimme kann das auch gar keinen Schaden anrichten. Wie es klingt und wie man es nutzen kann, das ist eine andere Frage. Ich denke, die Qualität des Klangs und der Resonanzen, die hängt schon ein wenig von der Physiognomie und Anatomie ab.»

Waschinskis Spitzenton ist das c''', an guten Tagen sogar das d'''. Er singt damit auch im Vergleich zu anderen Sopranisten sehr hoch. «Das ist ja auch meine Marktlücke!» sagt Waschinski. Diese Marktlücke führt ihn zu Traumpartien wie dem Ruggero in Händels «Alcina» oder zum Titelhelden der Hasse-Oper «Adriano in Siria», oder eben zum Xerxes: «Eine unglaublich dankbare Rolle.»
Waschinskis Karriere hat eben erst richtig begonnen. An wichtigen Barockfestivals wie in Melk ist er aufgetreten, im Frühling verzauberte er mit Farinelli-Arien bei den erstmals durchgeführten Salzburger Pfingstfestspielen. Auch die Plattenfirmen beginnen, seine Stimme zu entdecken: Zu hören ist er bereits in Händels dramatischer Kantate «Clori, Tirsi e Fileno» (bei NCA), in einer wunderbaren Solokantate von Giovanni Bononcini unter Ton Koopman (eine Produktion der Barocktage Melk und des ORF) und auf einer interessanten Platte mit geistlichen Werken von Kaiser Leopold I. unter Martin Haselböck (bei cpo).

Das Spiel mit den Geschlechterrollen hat für Jörg Waschinski einen ganz besonderen, fast erotischen Reiz. «Es macht mir Spass, damit zu kokettieren. Aber ich möchte natürlich nicht dastehen und einen weiblichen Eindruck hinterlassen.» Es wäre wieder etwas anderes, wenn er Norma singen würde. Überraschung, lacht Waschinski: Die Carmen hat er zum Spass schon einmal gemacht! (Reinmar Wagner)

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