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(DER SPIEGEL 52/1994)
SPIEGEL - Gespräch
Kribbeln im Zwerchfell*
Gesangsstar Jochen Kowalski über Kastraten, Sex bei Wagner und DDR-Schikanen
Das Gespräch führten die SPIEGEL- Redakteure Joachim Kronsbein und Peter Stolle.
Jochen Kowalski verdankt seine Weltkarriere einer produktiven Stimmband-Störung. Dem Schlachtersohn aus dem brandenburgischen Flecken Wachow, der ursprünglich lyrischer Tenor werden wollte, blieb nach dem Stimmbruch eine feminine Hoch- Stimme erhalten, mit der er barocke Kastratenrollen, aber auch Lieder der deutschen Klassik und Romantik interpretiert. Kowalski, 40, Star der Komischen Oper Berlin, ist mit Gastspielen und Platten schon vor der Wende im Westen bekanntgeworden. Glanzrollen des Künstlers, der mit Chanson-Programmen auch gern ins leichte Fach ausbricht, sind Glucks Orpheus und die Titelpartie in Händels "Julius Caesar".

SPIEGEL: Herr Kowalski, Sie singen mit einer glockenreinen Frauenstimme. Fehlt Ihnen etwas?

Kowalski: Absolut nicht. An mir ist alles dran. An meine Stimme habe ich mich aber noch immer nicht gewöhnt. Für mich ist es ein psychologisches Problem, das ich noch nicht verarbeitet habe. Denn eigentlich wollte ich natürlich Tenor werden. Und wenn ich mein lyrisches Gesangsidol Fritz Wunderlich höre, kriege ich noch heute gelegentlich eine Depression.

SPIEGEL:Wie kommen Sie denn zu Ihrem Hochton-Organ?

Kowalski: Ganz einfach: Meine Altstimme blieb mir über den Stimmbruch hinaus erhalten. In der Charité hat man mir mal eine Mini-Kamera in den Hals geschoben und entdeckt, daß meine Stimmbänder nur an den Rändern schwingen, im Unterschied zu anderen Sängern. Es ist eine Art Defekt. Auf der Bühne bleibt mir deshalb vorwiegend das barocke Kastraten-Fach, also Partien wie Händels Julius Caesar oder Giustino.

SPIEGEL:Sie sind ein Countertenor.

Kowalski: Nicht wirklich. Diese Kollegen erreichen die Höhen durchs Falsett, quasi mit einer künstlichen, gepreßten Kopfstimme. Ich nenne mich deshalb lieber Altus.

SPIEGEL:In weiche Höhen schwingen Sie sich hinauf?

Kowalski: Bis zum zweigestrichenen F, wie ein normaler Frauen-Alt eben auch. Damit kann ich zum Beispiel die Alt-Partie in der "Matthäus-Passion" von Bach singen.

SPIEGEL:Mit der Panne im Kehlkopf haben Sie es weit gebracht - zum Kammersänger und nun auch zum Star an der Met.

Kowalski: Komisch, was? Ich staune selbst darüber. Früher war ich das Stimmwunder der DDR, und jetzt singe ich zum erstenmal in New York, den "Fledermaus"-Orlofsky. Vor Aufregung habe ich seit Tagen nicht mehr geschlafen.

SPIEGEL:Haben Sie immer noch Angst vor einem neuen Publikum?

Kowalski: Das ist jedesmal ein Kampf. Denn ich muß die Leute ständig davon überzeugen, daß einzig diese Stimme zu mir paßt. Wenn ich anfange zu singen, geht oft ein Staunen durch die Menge. Die gucken ins Programmheft und dann auf die Bühne: Ist das wirklich ein Mann da oben?

SPIEGEL:Hat man Sie schon einmal ausgelacht?

Kowalski: Einmal, bei einem Liederabend. Da bekam ich einen hochroten Kopf und einen schrecklichen Adrenalin-Stoß. Aber irgendwie kriege ich die Leute immer rum. Manchmal brauche ich ein halbes Programm. Spätestens bei Schumanns "Dichterliebe" herrscht Totenstille, und am Ende toben sie meist vor Begeisterung.

SPIEGEL:Wer erhitzt sich denn so für Sie?

Kowalski: In Deutschland, besonders hier in Berlin, ist es ein verschärftes Damen-Publikum, Kräfte von 18 bis 81, die mir nachreisen, Schals und warme Strümpfe stricken. Manche glauben sogar, sie müßten mich dringend heiraten. Die sehen in mir ein Lustobjekt. In Spanien mögen mich seltsamerweise die Männer.

SPIEGEL:Etwa auch als Lustknaben?

Kowalski: Nee, die fahren auf meine Stimme ab, wollten aber nur Bier mit mir trinken. Die Spanier lieben das deutsche Kunstlied. Dabei habe ich immer gedacht, die kennen nur Zarzuelas oder ihre National-Heroine Montserrat Caballé.

SPIEGEL:Italien, das Mutterland der Kastraten, legt Ihnen doch sicher zu Füßen?

Kowalski: Überhaupt nicht. In Rom ging mal ein Abend mit Händel-Kantaten total daneben. Die Italiener sind fixiert auf ihre "grandi tenori". Mit meinem Altus können die nichts anfangen. Früher war das da ganz anders. Wenn Kastraten sangen, wie der berühmte Farinelli etwa, fielen die Frauen reihenweise in Verzückung und Ohnmacht. Gesang hat eben immer etwas mit Sexualität und Erotik zu tun. Wenn ich eine tolle Stimme höre, merke ich das immer sofort ganz unten im Zwerchfell. Im Unterleib spielen sich dann chemische Prozesse ab.

SPIEGEL: Wer bringt Sie denn in Wallung?

Kowalski: Die legendäre Lotte Lehmann zum Beispiel. Was bei Lotti abgeht, ist nicht zu fassen. Technisch war sie ja gar nicht perfekt. Aber wenn ich sie auf Platte als Sieglinde im ersten Akt der "Walküre" mit Lauritz Melchior höre, dann ist das für mich ein erotisches Gewitter, Ihre Kollegin Kirsten Flagstad hat nach einem Lehmann- Auftritt mal gesagt: "So was tut eine anständige Frau nur mit ihrem Ehemann im Bett."

SPIEGEL:Mit Händel und Gluck stürmt man keine Schlafzimmer.

Kowalski: Nee. Deshalb träume, ja, phantasiere ich manchmal immer noch von den sinnlichen Wagner-Partien, von Lohengrin oder gar vom Tristan, am liebsten in Bayreuth. Ich habe Festspiel-Chef Wolfgang Wagner sogar schon angeboten, das Altsolo im "Parsifal" umsonst zu singen. Herr Wagner, please.

Die Schwarzkopf mäkelte: Ich kann Countertenöre überhaupt nicht leiden

SPIEGEL:Notruf nach Bayreuth. Haben Sie Ihre Trainerstunden bei Elisabeth Schwarzkopf etwa für den Grünen Hügel genommen?

Kowalski: Nicht direkt. Ich hab' mal kurz in einem Meisterkurs der verehrten Sopranistin reingerochen. Sie empfing mich schon gleich mit der Mäkelei: "Countertenöre kann ich überhaupt nicht leiden." Sag' ich: "Na, ick ooch nich." Trotzdem wollte sie mir noch ein paar hohe Töne beibringen.

SPIEGEL:Sie wollten sich doch nicht für die lsolde qualifizieren?

Kowalski: Lieber Himmel! Die Kollegin stach mir nur energisch in die Seiten, faßte an meine Schläfen und wollte mir so die ideale Gesangstechnik nahebringen. Wir schieden in beidseitigem Unverständnis.

SPIEGEL:Erleben Sie öfter solche Dissonanzen?

Kowalski: Selten. Schrecklich war es mit dem britischen Dirigenten John Eliot Gardiner, der als Spezialist für Original-Instrumente hoch gelobt wird. Wir passen stilistisch überhaupt nicht zusammen, und er hatte die fatale Neigung, meine Individualität als Sänger kaputtzumachen. Und Humor ist ihm überhaupt nicht gegeben. In London sollte ich mit ihm Monteverdis "L'Orfeo" einspielen, und er nahm mich im Studio regelrecht auseinander. Ich sollte singen wie ein Countertenor ...

SPIEGEL:... also im verhaßten Falsett.

Kowalski: Ja, dies asexuelle Gesäusel. Ich habe Gardiner angeblafft. "Schlagen Sie doch das Telefonbuch auf und suchen Sie sich einen aus." Der hat mich fast zum Heulen gebracht. Ich flenne sonst nur, wenn Heinrich George im Film "Der Postmeister" zu Tode kommt. Mit Gardiner arbeite ich nie wieder.

SPIEGEL:Sind Sie mit Ihren stimmlichen Höhenflügen eine Konkurrenz für singende Damen?

Kowalski: Zuerst haben sie's gedacht. Als ich 1987 den Orlofsky in Wien sang, warteten die versammelten Kammersängerinnen doch bloß auf meine Bauchlandung. Dann war ich die Sensation. Und die berühmteste Orlofsky-Interpretin Brigitte Fassbaender soll gesagt haben, nach meinem Auftritt wolle sie diese Rolle nie mehr singen.

SPIEGEL:Machen Sie dem Gesangs-Feminat auch andere Hosenrollen streitig, vielleicht den schönen Jüngling Octavian im "Rosenkavalier"?

Kowalski: Absolut nicht. Die meisten sind sowieso zu hoch für mich. Außerdem hat Richard Strauss solche Partien ausdrücklich für Frauen geschrieben. Ihm ging es bei Mädels in Jungsrollen um einen besonderen sexuellen Reiz. Zwei Frauen als Liebespaar - das war damals geil. Wenn ich den Part übernehmen würde, wäre es nur eine peinliche Transvestiten-Nummer. Ich will aber ernst genommen werden.

SPIEGEL:Offenbar auch als Entertainer. Sie gönnen sich öfters lustvolle Ausflüge in den Kitsch.

Kowalski: Ja. Die mache ich gerne als Zugaben bei meinen Liederabenden. Ich nehme dann eine laszive Haltung am Pianoforte an, klapp' Frack-Kragen und eine Augenbraue hoch und schmalze "Roter Mohn"...

SPIEGEL:... die unvergängliche Schnulze der chilenischen Nachtigall Rosita Serrano.

Kowalski: Dann lachen sie alle. Das ist mein Trocadero-Teil. Von Jugend an hab' ich einen Hang zu Schlagern und Schnulzen. Mit drei Schauspieler-Kollegen habe ich gerade ein sehr erfolgreiches Unterhaltungs-Programm im Deutschen Theater in Berlin herausgebracht. Es heißt "Eine Sehnsucht, ganz egal wonach!", und zum Schluß trällere ich da: "Du hast Glück bei den Frau'n, Bel-ami."

SPIEGEL:Wonach sehnt sich der Freizeit-Kowalski?

Kowalski: Auch nach leichter Kost. Wenn ich hier, in der Komischen Oper, mit meinem Lieblingsregisseur Harry Kupfer so sechs, sieben Stunden hart probiert habe, bin ich so kaputt, daß ich mir "Die Frau meiner Träume" mit Marika Rökk oder irgendeinen anderen Video-Schnulli einlege. Und jedesmal, wenn ich das Melodram "Heimat" gucke und Zarah Leander dröhnt, frage ich mich: In welcher Tonart singt das Mädel eigentlich? Es ist herrlich. Der deutsche Ufa-Film und seine Chansons liegen mir wahnsinnig am Herzen. Ich sammel' sie alle, seit ich mit 14 mein erstes Grammophon und viele alte Schellackplatten bekam.

SPIEGEL:Hatte die Familie denn Sinn für Ihre Neigungen?

Kowalski: Ja. Ich komme aus einer Schlachterei in Wachow, einem Nest in Brandenburg, und da wurde ständig gesungen. Muttern war schwer evangelisch und führte sonntags um zehn im Gottesdienst den Ton an. Sie hatte einen hochdramatischen Sopran mit einer schönen, warmen Kuppel. Vatern schmetterte im Schlachthaus am liebsten "Es steht ein Soldat am Wolgastrand".

SPIEGEL:Eine volkstümliche Jugend.

Kowalski: Na, und wie! Bei uns war immer Highlife, wenn es sonnabends im Westfernsehen Henry Vahl und Heidi Kabel gab, "Tratsch im Treppenhaus" und ähnliche Schwänke. Es war wundervoll. Ich hab' das inzwischen alles auf Video. 1985 durfte ich dann die herrlichen Ohnsorg-Komiker endlich in natura bewundern.

Auf zur Reeperbahn! Ich wollte endlich mal 'nen Sex-Shop sehen

SPIEGEL:Als Reisekader gastierten Sie schon lange vor dem Mauerfall im Westen. Wie waren die ersten BRD-Kontakte?

Kowalski: Aufregend. Am 27. Januar 1985 kam ich auf dem Hamburger Dammtorbahnhof an. Ich sollte an der Staatsoper in Händels "Belsazar" den Propheten Daniel spielen, aber mein erster Gedanke war: auf zur Reeperbahn, endlich mal 'nen Sex-Shop sehen. Nach ein paar Bierchen habe ich mich auch reingetraut. Jeden Abend ging ich wieder hin. Man mußte doch soviel nachholen.

SPIEGEL:Und der Kontakt zur Hochkultur?

Kowalski: Der war flüchtig. Ich hatte eine Karte für Neumeiers "Schwanensee" Ballett, und ich armer Ossi kam in die Oper und schämte mich schrecklich. Da liefen all diese schnieken Leute von der Elbchaussee rum, die waren so braun, so schick und rochen so gut. In der Pause habe ich mich auf dem Klo eingeschlossen, und als es weiterging, bin ich dann rausgeschlichen.

SPIEGEL:Das Aroma des Kapitalismus stieg Ihnen unangenehm in die Nase?

Kowalski: Durchaus nicht. Ich kaufte mir gleich was zum Anziehen und zum Duften. Später konnte ich mir dann von meiner West-Gage ein richtiges Auto leisten, einen rasanten schwarzen BMW.

SPIEGEL:Hat der Schlitten daheim nicht böses Blut gemacht?

Kowalski: Man wollte mich damit gar nicht mehr reinlassen. Dreieinhalb Stunden haben die blöden Grenzer rumtelefoniert, obwohl ich von Genossin Adler im Ministerium für Außenhandel eine Einfuhrgenehmigung vorweisen konnte. Schließlich hab' ich mir den verzweifelten Jux gemacht und mit dem Politbüro, mit Kurt Hager, gedroht. Da durfte ich das BRD-Fahrzeug plötzlich einführen. Beim Berliner Zoll haben sie die Kiste dann drei Tage lang auseinandergenommen. Das Ergebnis: Der BMW entspräche nicht der Straßenverkehrsordnung der DDR. "Wie bitte?" habe ich geschrien. Doch, sagten die Zöllner, es fehlen die Schmutzfänger über den Hinterreifen. Reine Schikane.

SPIEGEL:Wie endete das Drecks- Drama?

Kowalski: Ich hab' gefragt: "Genossen, wie lange habt ihr auf? Jut, ick fahr' mal eben rüber ins KaDeWe und hol' diese Abspritz-Ottos." Was haben die mich gehaßt! Übrigens, heute fahren in meiner Straße alle BMW.

SPIEGEL:Fühlen Sie sich denn wohl im neuen Deutschland?

Kowalski: Sicher. Aber meine künstlerischen Wurzeln liegen nun mal in der DDR. Hier, in meiner geliebten Komischen Oper, hat mich Harry Kupfer entdeckt, hier hin ich als Benjamin angefangen, und für die Kollegen bin ich das immer noch, obwohl ich doch schon ganz schön alt bin.

Zum Abschied, "Roter Mohn" - so geht ein Altus von Welt

SPIEGEL:Wann hat die liebe Kehle Ruh'?

Kowalski: Zehn Jahre möchte ich wohl noch singen.

SPIEGEL:Von welchem Abgang träumen Sie?

Kowalski: Von der Altpartie in der "Matthäus-Passion". Die möchte ich so schön singen: Es gibt keine Steigerung mehr.

SPIEGEL:Und der letzte Akt im Trocadero-Teil?

Kowalski: Natürlich die Rotlicht-Kantate "Roter Mohn".

SPIEGEL:Zur Feier des Tages begleitet vom Preßkopf-Fanatiker John Eliot Gardiner auf Original-Instrumenten.

Kowalski: Genial. So geht ein Altus von Welt.

SPIEGEL:Herr Kammersänger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.